Tief unter der Erde, am Ende von unzähligen Gängen findet man, wenn man soweit gelaufen ist, das man sich fast schon am Erdmittelpunkt wähnt, eine Höhle, deren Eingang selbst für die bis vor kurzem hier unten lebenden Erdtrolle nur schwer zu entdecken war.
Ich hatte schon oft von dieser Höhle gehört, doch erst jetzt bekam ich die Gelegenheit das mir bis dahin unbekannte Reich zu betreten. Mein Freund Fanx, der letzte Erdtroll, und somit der letzte Bewahrer des Geheimnisses um die Tiefen der Katakomben, lud mich zu einer außergewöhnlichen Reise ein.
Ich folge ihm in eine Welt unter der Erde, die mehr Mysterien zu erzählen vermag, als mir Worte bekannt sind, und möchte dieses Geheimnis nun mit der Welt teilen, weil es die wohl letzte Gelegenheit war das zu erleben..
Mir kam es vor, als wären wir schon Wochen unterwegs. Meine Beine waren schwer wie Blei, mein Kopf schmerzte vom Gewicht des klobigen Grubenhelms, und mein Rücken bog sich unter der Last meines Rucksacks. Vor zwei Tagen waren wir aufgebrochen um eine der geheimnisvollsten und sagenumwobensten Höhlen der Erde zu finden und zu erkunden.
Mein Begleiter und Führer durch diese unheimliche, unterirdische Welt schwebte nahezu leichtfüßig über den engen Schotterpfad, und das obwohl er mein eigenes Alter um mehr als das Doppelte übertraf.
"Ich brauche eine Pause", keuchte ich hinter seinem Rücken. Fanx drehte sich zu mir um, sah meinen erschöpften Zustand, und begann zu grinsen. "Wenn du jetzt schon schlappmachst, wie willst du dann erst die Tiefen der Höhle erforschen, wenn wir am Ziel sind?" "Bis dahin werde ich schon wieder Kraft haben …" erwiderte ich. "… wenn du mir mal die Gelegenheit gibst ein wenig auszuruhen, und dann vielleicht nicht weiterhin dieses Mördertempo vorlegst." Den Blick den ich jetzt erntete konnte ich nicht richtig deuten, und auch seine Worte erschlossen sich mir nicht gleich.
"Wenn du denkst, das wir schnell sind, kannst du nicht erfassen, um wie viel sich die Höhle mit jedem deiner Lidschläge vergrößert. Du wirst in der Höhle nur in der Lage sein die Vergangenheit zu sehen, weil die Gegenwart zu schnell an dir vorbeizieht, und alles was du siehst schon lang vorbei ist... Komm weiter, wir haben den Eingang fast erreicht."
Ich schaute ihn ein wenig ungläubig an, weil ich den Sinn seiner Worte nicht verstand, doch viel Zeit ließ er mir nicht, um mich meinen Gedanken hinzugeben. Mit unbeirrbarer Geschwindigkeit setzte der Troll seinen Weg fort, und ich beeilte mich an seinen Fersen zu bleiben. Schließlich wollte ich nicht in die Gefahr laufen, mich an einer der unzähligen Weggabelungen zu verirren.
Wenn ich nun gedacht habe, das der Ausspruch 'fast erreicht' mit dem zu vergleichen war was ich als 'fast' bezeichnete irrte ich mich gewaltig. Es sollte noch gut 4 Stunden dauern, bis der Troll endlich stehen blieb, und verkündete "Wir sind angekommen."
Ich blickte mich erstaunt um. Hier war nichts. Nichts das anders aussah, als die Gänge durch die wir die ganze Zeit gegangen sind. Ich sah den Troll an, und fragte: "Ich kann nichts sehen, wo ist der Eingang?" Anstatt mir zu antworten trat mir der Troll mit aller Heftigkeit gegen das Schienbein. Ich schrie laut auf, und Tränen des Schmerzes stiegen mir in die Augen. Ehe ich ihn noch fragen konnte, was das nun sollte, erschien wie aus dem nichts ein Schloß, über dem sich ein Trichter befand.
"Diese Tür", begann der Fanx, "öffnet sich nur, wenn man dem Schloß eine Träne gibt, die unter echtem Schmerz entstanden ist. Niemand dem noch nie ein Leid widerfahren ist soll die Gelegenheit haben das Leid anderer zu sehen. Da hier die Gegenwart Vergangenheit ist, muß die Träne frisch vergossen werden." Der Troll bedeutete mir nun mit der Hand das ich meine Tränen in den Trichter weinen sollte, was ich verwirrt tat.
Ein Kratzen erfüllte den Gang. Ein schnarrendes Geräusch, und obwohl ich nicht sah, was diesen Laut verursachte spürte ich doch einen Lufthauch. Ein bläuliches Licht nahm den Gang ein, und im ersten Moment war ich wie geblendet. Hatten sich meine Augen doch bei dem Fußmarsch an das Dämmerlicht der Grubenlampe gewöhnt.
Was sich dort vor meinen Augen auftat lässt sich nur schwer in Worte fassen. Eine Halle, so weitläufig das ich das Ende nicht sehen konnte, so hoch, das ich meinte der Kölner Dom würde dort zweimal hinein passen. Über und über gefüllt mit Regalen, zwischen denen so enge Gänge waren, das gerade mal eine Person, und eine unendlich lange Leiter dort Platz fanden.
„Geh den Gang stets so zurück wie du ihn gekommen bist. Wählst du einen anderen Weg, kommst du an einem ganz anderen Ende des Gewölbes heraus." Er sah mich durchdringend an. "Bleib hinter mir! Ich führe dich in die Neuzeit."
Was er damit meinte sollte mir erst später klar werden. Ich trat näher an ein Regal, und schaute mich genau um. Eine Phiole stand dort neben der Anderen, unendlich viele und jede hatte ein kleines Schild um den Hals hängen. Sanft pustete ich den Staub vom ersten Schild. "Urknall".
Ich blickte den Troll fragend an. " Was verstehst du nicht?" fragte er, und nahm das Gefäß aus dem Regal. Er reichte es mir, und behutsam nahm ich es in meine Hand. "Öffne es, dann wird alles klarer.“ Mein Blick muß in dem Moment doch sehr zögerlich gewesen sein, denn der Troll wiederholte seinen Ausspruch mit Nachdruck, ja fast schon in einem Befehlston. "Öffne es!"
Sehr vorsichtig hob ich den Deckel, ein alter korkähnlicher Verschluss. Es passierte im ersten Moment nichts, doch dann stieg ein Gebilde ähnlich einer Seifenblase auf, schwebte vor meinen Augen, und zeigte mir einen grellen Ball in seinem Inneren. Das ganze Schauspiel dauerte nur den Bruchteil einer Minute, aber dennoch spürte ich eine Traurigkeit, die unbeschreiblich war. Ich wartete noch einen Moment, und als nichts weiter geschah, verschloss ich die kleine Flasche, und gab sie dem Troll zurück, der sie wieder an seinen Platz stellte.
"Möchtest du noch mehr sehen?" fragte er mich. "Hast du es verstanden?" Nichts hatte ich verstanden, darum bat ich ihn mir mehr zu zeigen. Wir gingen eine Weile die Regale entlang, und er nahm ein ähnliches Gefäß, von einem der Regalböden. Wieder blies ich den Staub von der kleinen Messingplatte, die um den Hals des Behältnisses baumelte. "Saurier" Erneut öffnete ich die Phiole, sah das Gebilde das einer Seifenblase so ähnelte, und sah im Inneren einen Kometen auf der Erde einschlagen, und Saurier zu Staub zerfallen. Jetzt wusste ich wohl als einziger Mensch, was damals passierte, als die Saurier ausstarben, und ich wusste das mir nie jemand glauben würde.
Wir gingen weiter in die Höhle hinein, im vorbeigehen sah ich Flaschen mit Aufschriften, wie
"Eiszeit" und „Sintflut" Und so sehr ich auch wissen wollte was sich hinter den Beschriftungen verbarg, Fanx machte keine Anstalten mir ein Gefäß zum anschauen zu geben, oder gar seinen Schritt zu verlangsamen.
Langsam begriff ich was hier gesammelt wurde. In jedem Behältnis war ein dramatisches Ereignis festgehalten, zu Anbeginn der Zeit hat der Mensch da natürlich noch keine Rolle gespielt, aber sicher würde sich das ändern, wenn wir ein paar Millionen Jahre später in die Phiolen schauen würden.
Tiefer und tiefer schritten wir in die Höhle, und nach einer Weile, in der wir nicht ein Gefäß geöffnet hatten gab mir der Troll einen Philole, die größer war als die, die ich Anfangs in den Händen hielt. Auf ihr stand "Sklaverei" Fanx hielt mir das Glasgefäß hin, und ich öffnete es. Diesmal dauerte auch die Seifenblasendarstellung länger, und ich konnte Sklaven beobachten die gequält, schwer misshandelt und halbtot geschlagen wurden, und ich sah ihre Tränen, wenn sie Abends auf den Nachtlagern froren und sich in den Schlaf weinten.
In mir stieg eine Wut auf, die ich fast nicht erklären konnte. Wozu waren Menschen nur fähig. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Wir passierten "Holocaust" und "Aids", und dann kamen wir an ein Ereignis, bei dem ich stoppte. "Fanx", sagte ich, "bitte gib mir diese Flasche". Der Troll zog die Augenbrauen hoch, und bedeutete mir damit seinen Unwillen, aber dennoch tat er, um was ich ihn gebeten hatte. Lang betrachtete ich die Seifenblase, und mir stiegen Tränen in die Augen, die sogleich von Fanx aufgefangen wurden. Auf der Flasche stand: "World Trade Center 11.09.2001"
Doch nicht nur große bauchige Flaschen gab es zu sehen. Dort standen auch unzählige kleine Fläschchen, die mit "Beate Vogel", "Patzy Ewans" oder "Hong Whan" beschriftet waren. Ich sah Menschen die großes Leid erlitten, und alle vergossenen Tränen schienen sich hier wieder zu finden. Nein, sie schienen sich nicht hier wieder zu finden, sie waren alle hier. Jede Träne die je vergossen wurde.
Wir setzten unseren Weg fort und ein Ende der Gänge war nicht abzusehen, so viele Flaschen Ballongefässe, kleinste Phiolen bis wir einen Platz erreichten auf dem eine Sitzbank stand. Es schien, als gehörte sie nicht hierher und sie sah zwischen all den Regalen so unscheinbar aus. Der Troll bat mich, ich solle mich setzen, und erschöpft tat ich das auch. Mein Begleiter setzte sich neben mich und begann zu erzählen.
"Das ist das Zentrum der Höhle. Von hier aus ist es immer nur einen Lidschlag lang zu jedem Ende, also Vergangenheit und Zukunft gleich weit entfernt. Schneller als du dir vorstellen kannst wächst dieser Ort. Hier siehst du die Tränen der Welt. Jede Einzelne, ob von Mensch oder einem noch so kleinen Getier, die jemals vergossen wurde, ist hier gesammelt. In jeder steckt die Erinnerung an den Moment, in dem sie vergossen wurde. Die kleinen Flaschen bewahren das Einzelleid, in den Großen spiegelt sich das Leid und Entsetzen der Menschheit, zum Teil so viel, das es nicht mehr auf den Einzelnen zu übertragen war, und darum gesammelt und vereint werden musste. Wie Seuchen oder Attentate. All das mag grausam klingen, doch zu jeder Flasche hier gibt es ein Gegenstück. Jeder Träne steht ein Lachen gegenüber, und genau in dem Moment in dem eine Träne vergossen wird, wird genau auf der anderen Seite der Erde gelacht. Wenn hier jemand stirbt, wird dort jemand geboren. Hier geschlagen, dort gestreichelt. Das ist das Gleichgewicht des Lebens... Und jetzt, bevor wir diese Höhle verlassen, gebe ich dir noch etwas mit, etwas zum Nachdenken."
Der Troll machte eine kurze aber sehr bedeutungsschwangere Pause, und sah mich ernst an.
"Nimm all dein Leid, das dir widerfahren ist, und setze jeder Erinnerung ein Freudiges Ereignis entgegen. Sei ehrlich zu dir, beziehe alles mit ein, und du wirst eines feststellen - Es hält sich die Waage."
Jetzt bedeutete er mir zu folgen, und ehe ich mich versah standen wir am Ausgangspunkt unserer Reise. Nicht der Weg den wir gekommen waren, sondern ein viel kürzerer.
Es war dunkel, und der Mond beleuchtete schwach das Umfeld des Stolleneingangs. Ich war noch immer sprachlos, so viel hatte ich gesehen, so viel miterlebt, durchlebt und auch durchlitten. " Warum hast du mir das gezeigt?" fragte ich, weil ich immer noch nicht wusste warum ich das Geheimnis der Tränen sehen durfte.
"Ich bin der letzte Wächter des Tränenmuseums, und möchte das du, mein einziger Freund, der Nachwelt eine Botschaft hinterlässt." Ich hörte mir die Worte an, die mein Leben verändern sollten, und auch heute lange nach dieser Begegnung gebe ich sie jedem weiter:
"Wenn du lachst, muß jemand für dich weinen, und mit jeder deiner Tränen schenkst du ein Lachen."
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